Gewalt in Schulen
Hier haben wir das Problem mit Aggression und Gewalttätigkeit - auf dem eisigen Mars die ausufernde Freundlichkeit.
Ein zivilisatorisches Spiegelbild - vorgetragen auf einer Schulleiter-Dienstbesprechung in Bremerhaven 1992.
Niemand vermag so ganz genau zu sagen ob die Gewalttätigkeit in der Schule und um sie herum wirklich zugenommen hat. Wie soll man das auch messen? Also, nicht einmal darüber, ob das Phänomen wirklich ein Phänomen ist, kann man sich einigen.
Auffallend ist, dass in unserer Gesellschaft der brave „Mensch nicht gewalttätig ist und anderen keinen Schaden zufügt. so lange er sich beobachtet weiß. Aber im Dunkeln und ohne Zeugen kann das Leben schon gefährlich sein.
Dagegen ist es im allgemeinen wenig reizvoll, anderen heimlich Freude zu machen und sich über die Freude von anderen zu freuen.
In der Unterhaltung fasziniert die Gewalttätigkeit, Prosoziales Verhalten, dargestellt, wirkt eher fade.
Gewalt ist unterhaltsam, interessant, kitzelt die Nerven. Aber zu viel davon, zu nahe dran, macht Angst. Viele von uns fürchten eine Gewalt-Überschwemmung, eine Epidemie, die am Ende das Leben nicht mehr lebenswert macht oder es gar zerstört.
Wenn wir die Art; wie wir uns mit dem Thema Gewalt befassen, sozusagen von außen betrachten könnten, fänden wir uns sicher sehr eigenartig.
Satire auf die thematische Fixierung einer Gesellschaft
Es ist mir etwas unangenehm, davon zu erzählen, denn wer spricht schon gern von einem Wahn, den man nicht mit anderen teilt?
Ich habe Kontakt mit Außerirdischen, genauer gesagt, mit der Zivilisation auf dem Mars.
Wie, auf dem Mars gibt es kein Leben? Wir haben es bisher nur nicht entdecken können, weder mit Teleskopen noch mit Satelliten Die Marsbewohner und ihre Zivilisation sind nämlich sehr durchsichtig - und sie mögen uns nicht besonders, weil wir so undurchsichtig sind. Daher scheinen sich die Marskanäle., betrachtet man sie mit einem Fernrohr, aufzulösen. Daher sieht man nichts auf Fotografien, die ein gelandeter Automat auf dem Mars aufgenommen hat. Diese Durchsichtigkeit ist eine Mimikry gegen aggressive Zivilisationen die andere Planeten erobern wollen.
Die Mars-Zivilisation ähnelt der menschlichen auf der Erde sehr, zumindest das technologische Niveau ist so ziemlich das Gleiche. Vom Wesen her sind die Marsianer sehr kühle Leute.
Frostiges Benehmen gehört zum guten Ton wohlerzogener Marsianer. Sie gehen nicht aus sich heraus ihre Gespräche sind knapp und ohne gezeigtes Gefühl, man verzieht keine Miene (am Anfang habe ich gedacht, die Marsianerinnen und Marsianer hatten keine Gesichtsmuskeln außer zum Kauen). Weil es klimatisch zu gefährlich ist, Warme abzugeben, geben die Marsianer gar nichts ab Wenn man eingeladen ist, wird einem nichts angeboten, man muss sich schon selbst etwas mitbringen. Die Häuser sind in den Boden eingelassen und mit Wällen umgeben, kleine Festungen. Man kann sie nicht mal von oben sehen.
In den Schulen sitzen die Schülerinnen und Schüler in kleinen Kabinen Wenn sie miteinander oder mit der Lehrkraft sprechen wollen, schieben sie ein kleines Fenster, ähnlich einem Bahn- oder Postschalter, hoch. Alle machen davon so wenig wie möglich Gebrauch
Die Marsianer haben keine Weltraumtechnologie entwickelt. Das war auch nicht mehr erforderlich, nachdem sie das Gesetz vom Raumaustausch entdeckt hatten und nach einiger Zeit in der Lage waren, jeden beliebigen Raum auf weite Entfernungen mit einem anderen auszutauschen mit allem was darin ist. Auf diese Weise gelangen sie an jeden gewünschten Ort und können jeden Ort zu sich her holen
Viele Marsianer besuchen die Erde, aber sie sind so blass und unauffällig dass sie von den Erdbewohnern übersehen werden.
Weil sie mich als relativ durchsichtig erkannten, nahmen sie mit mir Kontakt auf, und so konnte ich mehrere Male die Mars-Zivilisation besuchen
Ungefähr 800 Kilometer südlich vom Olympus Pons, einem mächtigen Kraterberg, liegen zwei Städte an einem bedeutenden Marskanal Kanal-Stadt, und zirka 60 Kilometer südlich, Kanal-Haven Letztere ist bedeutend, aber erheblich kleiner als Kanalstadt.
In Kanal-Haven besuchte ich den Schulrat Kon Trolle und den Schulpychologen Ber A. Tung Einmal durfte ich auch die Bürgermeisterin Karis Ma sprechen.
Alle drei berichteten mir von einem großen Problem, das die Öffentlichkeit beunruhigt und an den Grundfesten der marsianischen Gesellschaft rüttelt. Das Thema ist
Neuerdings ist zu beobachten, dass die Schülerinnen und Schüler, schon in den Grundschulen, großen Spaß daran haben, freundlich miteinander umzugehen. Sie lachen sich an, klopfen sich auf die Schultern, streicheln sich, machen sich Komplimente - und das Schlimmste: sie beschenken sich! Altere Schüler bringen den Kleinen Spielzeug und Süßigkeiten mit, die Kinder helfen sich gegenseitig, die Leistungsstarken erklären den Schwächeren all» und erledigen für sie die Aufgaben, die jene gar nicht können, eine unangenehme Situation für die Lehrer, denen kaum noch etwas zu unterrichten bleibt und die bei den Zeugniskonferenzen völlig die Übersicht verlieren.
Auf den Schulhöfen gibt es Ecken, in denen ständig Freundlichkeiten ausgetauscht werden, ohne dass die Lehrer dies verhindern können. Die Freundlichkeit ist nicht immer gleich tätlich, aber auch verbal ist das schon auffällig genug.. Äußerungen wie „Ich freue mich, dich heute wieder zu sehen“ oder „Mensch, Du siehst heute wieder gut aus" oder „Wie du das wieder in der Stunde formuliert hast, war einfach Spitze" sind noch das Harmloseste. In manchen Schulen trauen die Lehrer sich einzeln schon gar nicht mehr auf den Schulhof.
Es gibt sogar Schüler, die Lehrer für ihren ausgezeichneten Unterricht, ihre Gerechtigkeit, ihr phantastisches Expertentum loben oder gar für ihr angenehmes Wesen oder Aussehen.
Viele Lehrer sagen: woher haben so viele Kinder die Freundlichkeit? Von uns kennen sie die ja nun wirklich nicht gelernt haben
Bei A. Tung erzählte mir, dass die Freundlichkeitswelle auch schon einzelne Lehrer erreicht hat. Sie sind voneinander begeistert, wenn sie sich sehen, tauschen Unterrichtsvorbereitungen aus, mittags gehen sie einfach nicht nach Hause, sitzen in kleinen Grüppchen im Lehrerzimmer herum, versorgen sich gegenseitig mit Leckereien und Getränken, lachen und scherzen.
Kon Trolle stöhnt, weil er deswegen immer wieder Dienstgespräche führen und Lehrer ermahnen muss, die vorgeschriebene Eisigkeit zu zeigen. Am meisten macht ihm zu schaffen, dass solche Lehrer ihn auch noch für seine konsequente Amtsausübung loben. Nicht selten werden Lehrerinnen und Lehrer, den Schulaufsichtsbeamten begeistert lobend und preisend, aus dem Dienstzimmer getragen.
Schulleiter scheuen sich schon, Konferenzen abzuhalten, weil die von Freundlichkeit infizierten Kollegen nicht zu bewegen sind, Schluss zu machen. Sie sitzen zusammen, schunkeln und sagen das Schulverwaltunggesetz auf.
In einer weiter entfernt liegenden Ortschaft sollen mehrere Lehrer sich geweigert haben, die Ferien anzutreten.
Natürlich ist die Schule nur ein Spiegelbild des allgemeinen Zustande, der marsianischen Gesellschaft.
Die Polizei tat zur Zeit völlig überlastet, weil nachts Leute herumlaufen und anderen Geschenke vor die Tür legen, Besondere schlimm ist das Verhalten Einiger gegenüber Zuwanderern aus den armen marsianischen Provinzen, besonders von den Polkappen Dies. Familien werden neu eingekleidet, bekommen Fernseher, Kameras, ja Autos geschenkt und werden bei den Einheimischen in den besten Räumen untergebracht.
Wenn Frauen mit Handtasche durch einsame Parkanlagen oder durch den Wald gehen, rufen ihnen Männer aus den Büschen Komplimente zu manche bekommen mit Geld gefüllte Portemonnaies zugesteckt. Alte Leute erhalten Besuch von wildfremden Menschen und finden anschließend in ihren Küchenschränken Geld, Aktien, Schmuck
Die marsianischen Wissenschaftler sind sich ziemlich einig, dass diese Entwicklung auch im Zusammenhang mit den .Fernsehprogrammen gesehen werden muss. Die Marsianer sehen sich am liebsten Filme an, in denen Freundlichkeiten ausgetauscht werden. Eisigkeit ist unmodern. Sexfilme ohne Freundlichkeit interessieren niemanden mehr. Es scheint sogar so zu sein, dass diese Pornos nur wegen der Freundlichkeit angesehen werden.
Da nützt es auch nicht viel, wenn der Kultusminister von Kanalstadt und Kanal4taven an die Eltern appelliert, solche Filme nicht vor den Kindern anzusehen„ schon gar nicht die harten Videos mit so Titeln wie "Bescherung am Heiligen Abend" oder "Der barmherzige Samariter" Beide sind konsequenter Weise auf den Index gesetzt worden.
Bettler wagen sich übrigens kaum noch auf die Straßen, nachdem eine Bettlerin mit Kind vor kurzem fast unter Geldscheinen erstickt wäre.
Natürlich gibt es auch Stimmen, die sagen, dass das ganze Problem fürchterlich aufgebauscht wird. Es gibt natürlich Einzelfälle von hemmungsloser Freundlichkeit. Aber gehört das nicht zur normalen Entwicklung von Jugendlichen? Bei den meisten tritt doch bereits nach dem Eintritt ins Eheleben die gesunde Eisigkeit ein.
Außerdem, wir erinnern uns doch alle gern daran, wie wir zu fremden Menschen, zu Kindern oder Erwachsenen, heimlich nett waren, ihnen einen Herzenswunsch erfüllten, und wie wir beispielsweise vor den Eltern verbargen, dass wir unser Lieblingsspielzeug verschenkt hatten. Was war das für ein Spaß, zu beobachten, wie andere sich freuten, überrascht-ungläubige Gesichter machten und uns mit Dankbarkeitsbezeugungen überschütteten.
Die Marsianer hofften, ich könnte ihnen in dieser gefährlichen Situation raten. Angesichts dies» vielschichtigen Problems wollte ich mich allerdings nicht in die undankbare Rolle des besserwissenden Experten bringen lassen. Vorsichtig habe ich Isolations- und Distanztrainings für Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, angeregt, oder psychologische Einzelsitzungen, um herauszufinden: durch welche frühkindlichen Einflüsse hat meine Eisigkeit Schaden genommen?
Ein Prediger zieht zur Zeit gegen die ausufernde Freundlichkeit durch die marsianischen Lande. Sein Thema: Errettung durch Kälte. Ob er die Gesellschaft wirklich retten kann? Oder ist der Mars schon verloren?
Dr. Uwe Wiest
In einer Gesellschaft gibt es einen Gefühls- und Verhaltenskodex der beschreibt, wie ein anständiger Mensch sich gibt, mit anderen umgeht, welche Gefühle wie geäußert werden dürfen. Es gibt ungeschriebene Gesetze, aber auch ganz offizielle Vorschriften, an die man sich halten soll.
An diesem Kodex reibt sich die Jugend, 'Gestörte' verstoßen gegen ihn, heimlich aber auch ganz normale Bürger. Die Zivilisation besteht darin den Kodex aufrechtzuerhalten, wer daran arbeitet, ist 'gut', wer dagegen verstößt, 'böse',
Das 'Gut.' siegt aber merkwürdigerweise nicht, und das 'Böse' ist auch viel faszinierender und unterhaltsamer als das 'Gute' Die Fernsehunterhaltung löst dieses Dilemma, indem das Böse ausführlich und detailliert dargestellt wird, das Gute aber am Ende siegt. Das Gute existiert nicht ohne das Böe.. Und weil die Guten die Bösen bekämpfen, haben sie durchaus die Legitimation, böse zu sein, um das Gute zu bewahren. Daher sind die Guten in Filmen oft notwendigerweise gewalttätig - und das fördert die Sehbeteiligung.
Das ist in der Tat paradox: Um Gewalt zu bekämpfen, Ist Gewalt erforderlich (Verfolgen, Festnehmen, Verurteilen). Friedfertigkeit ist nur mit Gewalt zu erreichen.
Zur Zeit beobachten wir fasziniert die Zunahme von Gewalt und die Verunsicherung und Schwächung der "guten Seite". Dieser Kampf und die Ratlosigkeit des herrschenden Guten löst sich auf verschiedenen Schauplätzen darstellen:
Schulhof, Unterricht, Lehrerzimmer, Dienstgespräche beim Schulrat, Schulleiterkonferenzen, nächtliche Parke, Aufnahme von Flüchtlingen, Bettler an den Straßen, Medien, Fernsehen, Video, Zeitungen und Zeitschriften, psychologische Trainings Tätigkeit von Propheten.
Die Gewalt als Oberbegriff bösen Verhaltens greift um sich, Gewalttäter, die sonst deprimiert und ohne Beachtung dahinleben würden, erfahren sich als mächtig und beachtet. Die 'Guten' sehen interessiert zu, erleben die Erregung risikolos als Beobachter mit (Fernsehen, aber auch Schlägereien und Verkehrsunfälle in vjvo). Oder sie schlagen sich auf die Retter-Seite, um die Bösen' erbarmungslos verfolgen zu können. Oder: sie trainieren als Psychologen oder belehren als Pädagogen die möglichen und tatsächlichen Opfer ( Drama-Dreieck).
Heimliches, verbotenes Tun macht Spaß, vor allem wenn es andere überrascht, wenn man dabei Nacht über andere ausübt und Gewinner ist. Die Passiv-Konsumenten von Gewalt erleben entweder 'klammheimliche Freude' oder moralische Entrüstung' und Wut auf die Gewalttäter. Das 'Gute' allein ist dagegen mit Bravheit und dem Odium der Dressiertheit behaftet, und es ist langweilig. Langeweile ist quälend, aber zu viel Gewalt, vor allen Dingen dann, wenn die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer zu werden, steigt, ist bedrohlich. Zur Zeit scheint die Gewalt als Würze des Lebens überhand zu nehmen und uns die Lebenssuppe zu versalzen oder verpfeffern.
Gut-Sein als Sieg über da. Böse (Drachentöter und Prinzessinnen-Retter) bringt dagegen Achtung der Gesellschaft und das Ausleben von Aggressivität. Leider (?) ist diese praktische Form des heldenhaften Guten unmodern geworden Selbst James Bond oder Batman sind keine ernsthaften Vorbilder.
Auf dem Mars können wir die ganze Paradoxie besser und konzentrierter beobachten, weil das Zivilisationserhaltende und das gefährliche Treiben zerstörerischen Verhaltens mit anderen Inhalten besetzt ist. Verbotene Freundlichkeit bewirkt dasselbe wie Gewalt: sie macht Spaß, die Täter haben die Überraschung und Situationskontrolle auf ihrer Seite.
Nur; irgendwie wirkt die Entwicklung auf dem Mars angenehmer als die unsere.
Ich habe mich anmuten lassen von:
Paul Watzlawick: Vorn Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen.
Abschnitt: eine Kettenreaktion des Guten? Piper, München, 1986
Die Checkliste ist geistiges Eigentum des Fachleiters i.R. Hartmut Omnus, Bremen